Ein Beitrag von Gerd Flaig – Wir leben seit 75 Jahren im Frieden, in hohem Lebensstandard, in gutem Gesundheitswesen, mit Meinungsfreiheit, Rechtstaatlichkeit und vieles mehr. Eigentlich sollten wir mit dem Kompromiss, den unsere repräsentative Demokratie als Staatsform zulässt, doch sehr zufrieden sein. Sie ist nicht perfekt, aber scheinbar doch eine gute Lösung.
Ist das wirklich so?
Diese rhetorische Frage hat ihren Grund, wenn man sich vor Augen führt: Wer ist denn gemeint mit „wir“?
Die 12 Millionen Menschen in Deutschland, die von Armut bedroht sind und von der Teilhabe sozial und kulturell praktisch Ausschluss-bedroht sind? Oder 20% der Kinder, die in vererbter Armut aufwachsen?
Oder die Betroffenen von befristeter Niedriglohn-Arbeit, Mitmenschen, die nicht ihren Ellenbogen einsetzen oder nicht so begabt oder nicht so skrupellos sind, die am harten Marktgedanken orientierte Urteile erleben: Jeder hatte am Markt ja eine Chance, und wer nichts erreicht, ist selber schuld. Ohne Rücksicht darauf, dass es unter uns Menschen verschiedene Begabungen und Charaktere gibt – solche eloquenten mit Ellenbogen und solche weniger Begabte. Oder solche mit großer Empathie, die nicht rücksichtslos andere ausbeuten.
Gilt für alle das „Wir“ und die große Zufriedenheit? In unserer Gesellschaft, die vorwiegend am Wirtschaftserfolg und nicht am Gemeinwohl orientiert ist?
Das Schlimme ist: Die so Abgehängten kann man nicht verstehen, die wählen auch noch diejenigen, die sie so abhängen.
Sprechen wir über den Kern unseres Problems: Man erkennt gar nicht mehr vor Vernebelung durch Promigeschwätz und die von Lobbyisten beeinflussten Medien, dass wir hier im Staate eine Zuschauer-Demokratie haben mit zunehmendem Ungleichgewicht, dessen Schere immer weiter öffnet.
Entscheidungen werden hochgradig von Stiftungen, von Denkfabriken, von Wirtschaftsverbänden, von unzähligen Lobbyisten getroffen, die allesamt einer demokratischen Kontrolle durch das Volk vollkommen entzogen sind.
Kleines Beispiel: Kann mir jemand beantworten, warum unser Staat zum Beispiel nicht mehr Steuerfahnder einstellt? Man weiß, dass jeder davon 10 bis 100fach seiner Kosten einbringt, weil Steuer-betrug aufgedeckt wird. Wem nützt es, außer den Lobbyisten, wenn man die Zahl der Steuerfahnder schön kleinhält?
Früher hatten unsere Volksparteien eine schärfere Kontur: die Unionen bekannten sich für die Wirtschaftsmächtigen, die SPD für das Wohl auch der Schwächeren. Aber dann agierten bei uns die falschen Leute, die unsere Position verraten haben, Spitzensteuersatz für Reiche runter, Körperschaftssteuer für Banken Null und die Last, die Wirtschaft wieder in Schwung und Konkurrenzfähigkeit zu bringen auf die Schultern der Schwachen geschoben.
Haben das die SPD-Anhänger so gewählt? Ich bin sicher, dass die Wandlung zum Genossen der Bosse nicht von der SPD-Basis herkam. Wie gesagt: das ist Zuschauer-Demokratie.
Noch genauer gesagt: Wie läuft das ab? ich suche mir eine Partei und einen Kandidaten aus, der verspricht, meine Interessen zu vertreten. Dann wird er gewählt und verschwindet buchstäblich wie hinter einem Zaun. Er stellt fest, dass er kaum noch seine Versprechen halten wird, weil er jeden Abend der Woche eine Einladung zum Essen von verschiedenen Lobbyvertretern annimmt, weil die Parteiziele insgesamt zu vertreten sind und der Listenplatz gesichert werden muss, weil die Globalisierungskonkurrenz, die Bankenkrisen, die Europainteressen usw. jetzt von ihm vertreten werden müssen.
Wir wählen einen Repräsentanten. Aber dann erleben wir nur noch unsere Zuschauer-Rolle.
Repräsentative Demokratie gibt der Gesellschaft die Illusion, demokratisch mitwirken zu können, sie wird dagegen so regiert, dass die Mächtigen sich gut vernetzt gegenseitig bei der Ausbeutung der Gesellschaft unterstützen. Das ist der gefährliche Neoliberalismus. Das Prinzip ist als repräsentative Demokratie seit 1787 durch Benjamin Franklins so in der amerikanischen Verfassung verankert und vom ursprünglichen Erfinder ausdrücklich in dieser Absicht auch so definiert worden, das Volk nur bedingt zu beteiligen.
Die Wähler hält man bei Laune durch Meinungsumfragen oder Mitgliederbefragungen in einer Illusion, demokratisch mitwirken zu können Man macht jedoch zu wenig davon. Geht das Volk dann aber auf die Barrikade, dann hört man einsichtige Reden der Eliten mit verheißungsvollen Versprechen. Dann werden Arbeitskreise gegründet, alle Medien berichten über diesen Aktionismus täglich. Dann gibt es z.B. Beschlüsse der Kohle-Ausstiegsrunde mit Stilllegung von Kohlkraftwerken – und dann – nanu? – geht Datteln in Betrieb. Oder man redet sonntags scharf gegen die AfD und lässt sich montags von ihr wählen.
Das Gleichgewicht zwischen Machteliten und dem gemeinen Volk ist in Deutschland nicht mehr in Balance. Schon Aristoteles hat gewusst: wenn die Oligarchen allein die Macht haben, beuten sie rücksichtslos das Volk aus. Wenn alles rein demokratisch entschieden wird, werden Macht und Reichtümer gleichmäßig verteilt. Dann versagen die Eliten ihre Mitarbeit, weil man ihre Extraportionen wegnimmt. Beides muss in einem Gleichgewicht gehalten werden, wenn eine Gesellschaft optimal organisiert werden soll.
Den Lokomotiven darf man nicht die Feuerung wegnehmen und die letzten Waggons dürfen nicht abgehängt werden und den Berg zurückrollen. Das ist die Aufgabe guter Politik und wir nennen es soziale Marktwirtschaft.
Zurück zu uns: Die deutsche Gesellschaft merkt es nicht einmal, dass die Balance bei uns schief ist und die Schere immer weiter öffnet. Damit das Ungleichgewicht der Neoliberalen ohne großen Aufschrei funktioniert, spielen dazu ganz hochgradig die Medien mit. Die steuern mit ausgefeilten Methoden die Meinungsbildung und eine Vernebelung der Gesellschaft.
Ein Beispiel: Ein Journalist der ARD beim Interview hat sauber und spitzfindig ausgefeilte Fragen auf seinem Pappzettel. Die Fragen unterstellen manipulativ eingefügt bereits verzerrte Sachverhalte. Durch absichtlich aggressive Formulierung, die den Gesprächspartner vorwurfsartig ins schlechte Licht rücken, werden Fragen zur Unterhaltung des Zuschauers gemacht. Damit wird der Interviewte schon vor jeder Antwort in ein negatives Licht gerückt. Die Antwort des Interviewten, der nichts vorformuliert auf einem Zettel hat, klingt natürlich nicht so eloquent. Dann bleibt beim normalen Zuschauer von dem schiefen Bild der Journalisten-Attacke vieles hängen. Das ist Manipulation durch Lobby-Medien. Und es führt durch die Aggressivität der Fragen zum Abfärben auf Teile der Bevölkerung, die diese Aggressivität im Umgang miteinander geil finden und dann auch in den social media in diesem Stil, anonym verstärkt, so posten.
Das ZDF man räumt Hubertus Heil einen Interviewbeitrag ein, kurz über Grundrente und Mindestlohn zu sprechen. Danach räumt man Verbandsvertretern die dreifache Sendezeit ein, in der sie fantasievoll Angstmache vor Arbeitsplatzverlusten und Firmenpleiten verbreiten. Oder es werden Sachverhalte bewusst aussortiert.
Stephan Weil äußert sich in Spiegel online als erster der Politikergarde dazu, dass Lebensmittelpreise zu billig sind und zu falschen Entwicklungen geführt haben. Im ZDF wird in den Nachrichten kurz darauf dargestellt, dass Julia Klöckner und Robert Habeck, die das erst nach Weil geäußert haben, diesen Vorschlag machen. Von Weil und SPD ist keine Rede mehr. Wird nicht erwähnt. Überhaupt hatte man schon lange den Eindruck, dass es boshaft satirisch zugeht, wenn unsere Medien über die SPD berichten.
SPD ist gut als unterhaltsamer Lacher für die unkritische Gesellschaft. Die Manipulation praktisch aller unserer Medien wird von Think-Tanks und Beratungs-Professoren ausgetüftelt. Wir müssen aufpassen. Wir können zwar die Punkte der Sachverhalte aus den Medien entnehmen aber wir müssen unbedingt damit unser eigenes Urteil über die Zusammenhänge bilden. Die tendenziösen Darstellungen der Lobby-Medien durchschaue ich inzwischen recht gut mit einiger Übung.
Was ist mein Fazit?
Es ist als erstes wichtig, die geschilderten Struktur- und Funktionsprobleme unserer Demokratieform und Manipulationen zu durchschauen. Ändern können wir sie nicht, aber verstehen.
Wir von der SPD sind mit kurzem, schlimmem Ausreißer die Partei, die für das Gleichgewicht zwischen den Gruppen der Mächtigen und der breiten Gesellschaft eintritt. Gute Anfänge sind z.B. die Grundrente und der Mindestlohn, reicht aber noch lange nicht.
Wir müssen den Wählerinnen und Wählern die Augen öffnen, dass die SPD es ist, die für die Balance in unserer Gesellschaft sorgt damit die Schwachen nicht abgehängt werden. Wir sind nicht die sozialistische Linke und nicht die Genossen der Bosse.
Der Hamburger Kurs zeigte es deutlich erfolgreich: wir sind die Balance zwischen Lok und Waggons, der Garant für soziale Marktwirtschaft, die sonst keine Partei so klar verkörpert wie wir.
Ich will, dass die SPD wieder zu meiner Idealpartei wird, die das gesellschaftliche Gleichgewicht hält. Es kann etwas dauern. Aber jeder lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt.
Und ihr hier in Warstein? Zum Glück läuft Kommunalpolitik anders. Ihr seid nicht hinter einem Zaun verschwunden, von Lobbyisten umzingelt. In der Kommune ist der Durchgriff der Wähler auf den Rat um einiges direkter als auf Landes- und Bundesebene. Ich wünsche uns allen, dass die SPD Warstein auch weiterhin ein wichtiges Pfund in der Entwicklung der Stadt und dem Wohlbefinden ihrer Bürger ist.
Dazu mein Glück-Auf.